Hans-Georg Ulrichs predigte zur Eröffnung der Hauptversammlung des Reformierten Bundes in Heidelberg

Predigt über 2. Korinther 3,1-6.17 in der Peterskirche

Im Gedenken an Karl Immer, der heute (6. Juni 2013) vor 69 Jahren an den Folgen seiner KZ-Haft starb.

Liebe Gemeinde,

von weit her, aus allen Himmelsrichtung kommen die Menschen in diesem Jahr nach Heidelberg. Das passt wirklich gut zum Heidelberger, denn er verbindet diese Stadt mit vielen Menschen weltweit. Manchmal sogar unbewusst: Auf einer Konferenz berichtete jemand, der mit dem Heidelberger groß geworden war, wie er erst als Erwachsener begriffen hat, daß neben dem Heidelberger auch eine Stadt Heidelberg existiert. - Für viele Christen weltweit ist der Heidelberger ein besonderer „Erinnerungsort“ des christlichen Glaubens, auch ohne diese Ortschaft in der Kurpfalz.

Aus allen Richtungen sind auch wir zur Hauptversammlung des Reformierten Bundes nach Heidelberg gekommen – zum ersten Mal übrigens in der 129jährigen Geschichte. Es ist schön, sich zu sehen, es tut gut, als Reformierte beieinander zu sein, Gott zu loben und auch den weiteren Weg zu diskutieren. Unser Zusammensein, beginnend mit dem Gottesdienst, ist ein Grund, fröhlich zu sein. Wenn ich von hier aus in Eure Gesichter schaue, dann sehe ich frohe und gespannte Menschen.

Warum sind wir hier versammelt? Sollten Pressemeldungen recht haben, die behaupteten, der Reformierte Bund werde sich in Heidelberg versammeln, um den Heidelberger zu feiern? Sollte uns das genügen: Weit zu reisen, um sich zu vergewissern oder vielleicht neu zu erfahren, wie wunderbar unsere eigene Tradition ist? Ganz schlecht ist das sicher nicht, denn dann könnten wir zu Hause wieder berichten, warum wir reformiert sind und dem Heidelberger die Treue halten – naja, oder besser und etwas bescheidener gesagt: ihn nicht ganz vergessen. Eine konfessionelle Ertüchtigung wäre dann das Ziel, die Hauptversammlung so eine Art Trainingslager. Solche Lager sind oft hermetisch abgeschirmt. Und nach einem solchen Lager sind die Insassen motiviert, andere im Wettkampf zu schlagen.

In alle Himmelsrichtungen hatte sich der Glaube von Jerusalem aus ausgebreitet – die Verheißungen waren groß. Aus allen Himmelsrichtungen kamen die Christen in der Gemeinde in Korinth. Sie waren verschieden, pflegten verschiedene Glaubensstile, rechneten sich verschiedenen Richtungen zu. Warum hatten sie sich versammelt? Warum waren sie als Gemeinde zusammen? Gott, so Paulus gleich zu Beginn seines ersten Briefes an die korinthische Gemeinde, erweist seine Treue darin, daß die Gemeindeglieder berufen sind zur Gemeinschaft des Sohnes Gottes, Jesus Christus (1. Korinther 1,9). Wer aber in der Gemeinde ist tüchtig, das Evangelium von Jesus Christus zu lehren? (vgl. 2. Korinther 2,16b) – diese Frage kommt unweigerlich auf. Und Paulus beantwortet sie.

1. Fangen wir denn abermals an, uns selbst zu empfehlen? Oder brauchen wir, wie gewisse Leute, Empfehlungsbriefe an euch oder von euch? 2. Ihr seid unser Brief, in unser Herz geschrieben, erkannt und gelesen von allen Menschen! 3. Ist doch offenbar geworden, dass ihr ein Brief Christi seid, durch unsern Dienst zubereitet, geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht auf steinerne Tafeln, sondern auf fleischerne Tafeln, nämlich eure Herzen. 4. Solches Vertrauen aber haben wir durch Christus zu Gott. 5. Nicht dass wir tüchtig sind von uns selber, uns etwas zuzurechnen als von uns selber; sondern dass wir tüchtig sind, ist von Gott, 6. der uns auch tüchtig gemacht hat zu Dienern des neuen Bundes, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig. […] 17. Der Herr ist der Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.

Wer ist tüchtig zu lehren? – Der kann’s einfach nicht, so hatten die erfolgreicheren und smarteren Prediger und Parteihäupter über Paulus gespöttelt. Stark im Schreiben, aber die „liturgische Präsenz“ lässt doch ganz schön zu wünschen übrig. Von der neueren Homiletik hat er auch nichts mitbekommen, nicht wahr? Und den letzten Predigt-Slam hat er natürlich auch nicht gewonnen! Eigentlich kann man sich mit einem solchen Prediger und Lehrer in der Öffentlichkeit nicht wirklich blicken lassen. Andere sind geeigneter.

Der kann’s einfach nicht besser, so hatten die Herren Prüfer, Professoren und Oberkirchenräte, über einen jungen Vikar Ende der 30er Jahre in Baden geurteilt und ihn zweimal nur so gerade eben das Examen bestehen lassen. Ausweisen konnte er sich nicht mit anerkennenswerten akademischen Leistungen. Aber Ernst Münz wusste, anders als fast alle anderen, die vor ihm standen, was richtig und was falsch war. Er weigerte sich zu unterschreiben, dass er den nationalsozialistischen Staat vorbehaltlos anerkenne. „Jesus Christus … ist das eine Wort Gottes …, dem wir … zu gehorchen haben.“ So hatte er es in den Schriften Karl Barths gelernt. Dafür ist er ins Gefängnis gekommen. Die Smarteren, die besser durch die Jahre gekommen waren, haben ihm auch später die Anerkennung verweigert.

Wer ist tüchtig? Als christliche Gemeinde fragen wir: Was macht uns tüchtig, das Evangelium zu lehren? Der Heidelberger? Womit sollen wir uns ausweisen? Worauf sollen wir achten? Zwei Hinweise gibt uns Paulus durch seine Auseinandersetzung in Korinth. Zwei Hinweise zu unserer aktuellen Ertüchtigung, weil Paulus‘ Brief ja bis heute und eben auch bei uns gelesen wird.

Zum einen: Es bedarf keines anderen Ausweises als der zu Christus gehörenden Gemeinde. An anderen Stellen kann Paulus durchaus selbstbewusst von sich als Apostel reden, hier ist die Reihenfolge aber ganz eindeutig: nicht der wenn auch großartigste Prediger und Lehrer heiligt die Gemeinde, sondern die zu Christus gehörende Gemeinde heiligt diejenigen, die für sie Funktionen ausüben. Ob wir diese Christusbezogenheit nun neutestamentlich als Leib Christi verstehen, ob wir mit dem Heidelberger das Christsein als Teilhabe an Jesu Salbung interpretieren (vgl. HK 31/32), ob wir von einer Gemeinschaft mit Christus reden in seiner Gegenwart oder wir gar Anwandlungen einer Christus-Mystik haben: entscheidend und grundlegend ist es, dass wir Jesu Christi eigen sind, dass wir ihm gehören im Leben und im Sterben (HK 1).

Ganz schön steile Behauptungen, könnte man einwenden und so wird sicherlich auch eingewandt. Was nützt Dir diese Erkenntnis? – so möchte man in Heidelberger-Diktion die Nagelprobe machen. Und was haben andere davon, gar die Welt? Dass die Gemeinde und ihre Glieder ein Brief Christi sind, das ist offenbar, heißt es bei Paulus, das erkennen und lesen die Menschen, sogar alle Menschen, wie er meint. Christus hat sich mit uns verbunden und das nimmt man an uns wahr – das ist lebendig, wirksam, spürbar, total echt. Ein ganz außergewöhnliches Bild verwendet Paulus: Dieser Brief Christi ist von Gott selbst geschrieben, nicht als Ersatz des heiligen Gebotes auf andere Steintafeln, und heute auch nicht auf andere wertvolle Dokumente oder Medien zur Datenspeicherung, also alles Dinge, die wir auch distanziert als Objekte bestaunen – und uns damit vom Leib halten können. Nein, geschrieben hat der Heilige Geist in unser Fleisch und Herz. Das ist einerseits die hoffnungsfrohe Anknüpfung an Verheißungen, die die Propheten Jeremia und Ezechiel schon vernommen hatten. Wir sollen getroffen und verändert werden ganz tief im Herzen, nicht in den Gefühlen, sondern in unserem Wollen und Vollbringen. Das ist aber auch andererseits eine radikale Umwertung, denn alles „Fleischliche“ hat bei Paulus sonst den Beigeschmack des Vergänglichen, auch des von Gott Getrennten. Und hier nun: unser Jetzt-Zeit-Herz von Gott formatiert! Hier in diesem Leben, schon jetzt, mehr und mehr, je länger, desto mehr – wie oft formuliert nicht gerade der Heidelberger den Glauben mit diesen Worten.

Du bist immer noch bei steilen Behauptungen, höre ich jemand nachfragen. Geht’s auch konkreter? – Wenn Gott die fleischernen Herzen heiligt, dann kann es wohl nicht anders sein, als dass wir gegen alles Widerstand leisten müssen, was die fleischernen Herzen bedroht: das Seelenheil ist jedenfalls nicht ohne das leibliche Wohl zu sehen und anzustreben. Da die Umstände des Lebens sich oft ändern und unsere Einsichten begrenzt sind, werden wir Gottes Gebote immer wieder neu befragen müssen, was wir dankbar zu tun haben. Der Heidelberger hat das zu seiner Zeit getan, wir müssen das zu unserer Zeit tun.

Einen zweiten Hinweis gibt Paulus. Lange hat man Wortpaare bei Paulus stets als Abgrenzungen verstanden: Fleisch oder Geist, Gesetz oder Evangelium, und hier: Buchstabe oder Geist, alter Bund (3,14) oder neuer Bund (3,6). Bestätigt Paulus hier nicht wieder einmal den Vorrang des geistgewirkten Gnadenglaubens vor der gesetzlichen Leistungsreligion des Judentums, so fragt der idealtypische oder klischeehafte Protestant? Nein, denn erstens redet Paulus unmittelbar im Anschluss an den heutigen Textabschnitt vom Glanz des Mose (3,7) und zweitens gab es zu Paulus‘ Zeiten gar kein „Neues Testament“, das das „Alte Testament“ überträfe, ebenso wenig wie eine „Kirche“, die die Synagoge ablöste. Paulus kritisiert mit dem Tod bringenden Buchstaben die eigene religiöse Tradition, der er als Konvertit nicht gegenüber steht, wie Laienpsychologie dies gerne behauptet. Paulus hat die Größe, das Eigene zu kritisieren und hat dafür – wenn man so will – einen inhaltlichen und einen formalen Maßstab. Der inhaltliche Maßstab ist Jesus Christus, der formale Gottes Geist. Natürlich kann man seinen Standpunkt auch einmal verdeutlichen, indem man sich von anderen abgrenzt, sich eben de-finiert. Aber wirklich probat ist Kritik doch nur dann, wenn sie auch auf einen selbst angewendet wird. Den anderen zu unterstellen, sie verblieben beim toten Buchstaben, ist letztlich billig. Paulus hat sich selbst gefragt – und wir sollten ihm nacheifern, dieses Niveau beibehalten und uns selbstkritisch fragen: Wo herrscht bei uns der tötende Buchstabe? Ertrinken wir in Gesetzen und Vorschriften, die wir über Gebühr für wichtig halten? Bekommen wir keinen Atem mehr vor lauter Reformpapieren? Drangsalieren wir vielleicht sogar selbst andere mit tötenden Buchstaben? Mit unserer Art der Verkündigung etwa? Hat nicht auch der Unterricht im Heidelberger nicht selten den Geist dämpfende, wenn nicht gar Geist verhindernde Wirkungen gezeitigt? Und ist es wirklich ausgeschlossen, dass wir Menschen sogar ein so lebendiges Wort wie die Barmer Theologische Erklärung in erstarrte Buchstaben verwandeln können? „Richtige“ Theologie kann nicht nur „falsch“ wirken, wenn sich neue Kontexte auftun, sondern sogar  einen lebendigen Glauben verhindern, wenn sie geist-los betrieben wird.

Kritik, wenn sie Kritik ist, die man selbst aushält, ist Befreiung. Nur hundert Meter entfernt in der Universitätsbibliothek, die viele Hunderttausend Bände und Datensätze beherbergt, die also damit die Heimat von zig-Milliarden Buchstaben ist, steht in güldenen Lettern in der Eingangshalle eben dieses Wort „Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.“ Was für eine Befreiung, bevor man in den Bücherfluten zu versinken droht! Nicht mit dem Besitz und der Verwaltung von Buchstaben kommt eine Bibliothek zu ihrem Sinn, sondern indem der Geist gefördert wird. In diesem Fall einer weltlichen Bibliothek ist es der menschliche Geist. Schon er kann befreien, wie man in einer Universitätsstadt versichern würde. Freilich: Der menschliche Geist hat auch ganz andere Möglichkeiten als die der Befreiung. Gott sei’s geklagt. Buchstaben und Bücher sind vor genau 80 Jahren hier gerade neben dran auf dem Universitätsplatz verbrannt worden. Der menschliche Ungeist gegen geistvolle Buchstaben.

Der Geist Gottes, der die Gemeinden aller Zeiten und auch uns mit Christus verbindet, führt auf jeden Fall in die Freiheit. Wir sollten uns deshalb auch nicht selbst binden, nicht mit eigenem Machtstreben, das wir in kirchliche Zwecke kleiden, nicht mit Traditionen, die man angeblich nicht mehr hinterfragen dürfte, auch nicht mit eigenen Fehlern und Unzulänglichkeiten, indem wir dem Geist nichts zutrauen, nicht mit Kleinmut angesichts der angeblichen alternativlosen Realitäten dieser unserer Welt.

Was macht uns tüchtig, das Evangelium zu lehren? Der Heidelberger? Ja, auch der Heidelberger, weil er nichts lehrt ohne Bezug auf Christus. Das hat sich tief ins reformierte Herz eingeschrieben: Wir verkündigen nicht uns selbst, sondern Jesus Christus, daß er der Herr ist. (2. Korinther 4,5a)

Was macht uns tüchtig, das Evangelium zu lehren? Der Heidelberger? Ja, auch der Heidelberger, weil er den Geist, die Freiheit, den Widerstand und die Tapferkeit des christlichen Glaubens so betont. Eigentlich sind die Heidelberger-Freunde eine Geist-bewusste Pfingstbewegung, lange vor den Pfingstlern und Charismatikern der Gegenwart.

Was macht uns tüchtig, das Evangelium zu lehren? Diese Frage, liebe Geschwister, ist letztlich der Grund, warum wir uns hier zur Hauptversammlung und zum Katechismusjubiläum versammelt haben, warum wir mit dem Heidelberger lernen. Und wer hier gelernt hat, weiß dann, daß nicht wir selbst uns tüchtig machen, sondern dass Gott uns tüchtig macht mit seinem lebendig machenden Geist. Und wer hier gelernt hat, weiß, dass nicht wir (!) uns versammelt haben, sondern dass Jesus Christus durch seinen Geist und Wort uns versammelt, schützt und erhält (HK 54). Übermorgen gehen wir wieder in alle Himmelsrichtungen auseinander, gewiss, aber dann auch durch Gottes geschenkte Geistesgegenwart gestärkt, „zu Nutz und Heil der anderen Glieder“ bereit zu sein (HK 55), mit unserem Leben „unsere Nächsten auch für Christus zu gewinnen“ (HK 86), kurzum dass wir „herzliche Freude in Gott durch Christus haben und Lust und Liebe“, ein Gott entsprechendes Leben – zu leben (HK 90). Amen.

Zum oben erwähnten Vikar vgl. Hans-Georg Ulrichs, „Ihr Name und Ihr Schicksal ist der ganzen Bekennenden Kirche vertraut“. Vom Schülerbibelkreis in die Fänge der Gestapo: Ernst Münz (1915-1969) und sein BK-Freundeskreis, in: Jahrbuch für badische Kirchen- und Religionsgeschichte 6 (2012), S. 221-266.


Dr. Hans-Georg Ulrichs, Heidelberg, 6. Juni 2013